In den Medien wird immer wieder gesprochen von "Smarter Medicine" und "Top 5"-Listen. Aber was heisst das genau, um was geht es bei diesen "Top 5" für die Pädiatrie? Was muss ich als Mutter oder Vater dazu wissen? Unsere Frau Sara Straub, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, gibt Auskunft:
Eine adäquate und qualitativ hochwertige Versorgung von Kindern und Jugendlichen liegt uns ganz besonders am Herzen. Dabei steht der Patient und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt unseres Handelns und wir behandeln diese mit bestem Gewissen und nach aktuellstem Wissenstand. Ein empathisches Einbeziehen der Eltern und Kinder in die Behandlung ist unabdingbar und obsterstes Gebot in der Pädiatrie.
"Nach aktuellstem Wissensstand" bedeutet unter anderem auch, unnötige und vielleicht sogar schädliche Behandlungen unserer kleinen Patienten zu vermeiden. Genau das ist das Prinzip der Smarter Medicine – überflüssige medizinische Massnahmen sollen vermieden werden. Die passende Therapie ist eben oft nicht gleichbedeutend mit vielen Untersuchungen und starken Medikamenten.
Es gibt einige Erkrankungen, die sehr häufig bei Kindern auftreten und der Grund für die Vorstellung beim Kinderarzt sind. Dies sind zum Beispiel Magen-Darm-Infekte, Ohrenschmerzen, Husten, bestimmte Entzündungen der Atemwege und saures Aufstossen (Reflux) im Säuglingsalter. Obwohl diese Erkrankungen so häufig sind, ist die optimale Behandlung und Beratung der Eltern in diesen Fällen nicht immer einfach.
Viele Kinder machen im Laufe ihres Lebens den einen oder anderen Magen-Darm-Infekt durch. Dieser geht einher mit Erbrechen und Durchfall, manchmal auch mit Fieber als Begleitsymptom. Wenn das Kind dann nicht mehr gut trinken kann oder postwendend wieder erbrechen muss, kann es so rasch viel Flüssigkeit verlieren. Viele Eltern sorgen sich daher berechtigt um den Flüssigkeitshaushalt ihrer Kinder und sind besorgt, wenn diese das Trinken oder Essen verweigern.
Die erste Regel im Rahmen der Top 5-Liste für Pädiatrie ist, dass eine Infusion über die Vene zum Auffüllen der Flüssigkeit nur in den seltensten Fällen nötig ist. Zuerst muss in jedem Fall versucht werden, schluckweise Flüssigkeit zu trinken. Bei uns in der Praxis erfolgt das unter Überwachung und mit Anleitung durch unsere MPAs.
Führt das nicht zum Erfolg, so kann als nächster Schritt, vor dem Legen eines venösen Zugangs, eine Magensonde gelegt werden und darüber Flüssigkeit – zum Beispiel Tee, Muttermilch oder verdünnter Saft oder aber eine Zucker-Elektrolyt-Lösung – gegeben werden.
Die meisten Magen-Darm-Infekte sind nach wenigen Stunden vorbei und die Kinder erholen sich rasch. Insbesondere bei Säuglingen besteht jedoch die Gefahr der schnellen Austrocknung bei hohem Flüssigkeitsverlust, deshalb ist ein Besuch bei der Kinderärztin in jedem Fall unerlässlich.
Gerade in den Sommermonaten bei häufigem Baden kommen viele Kinder mit Ohrenschmerzen zum Kinderarzt. Auch im Rahmen von viralen Infekten mit Schnupfen – im Sommer und im Winter – sind oft die Ohren mitbeteiligt.
Die Diagnose ist meist schnell klar – eine Mittelohrentzündung. Früher wurden die Kinder dann sehr rasch mit einem Antibiotikum behandelt.
Viele Studien haben jedoch gezeigt, dass die Mittelohrentzündung häufig durch Viren hervorgerufen wird und damit ein Antibiotikum gar nicht notwendig ist. Antibiotika helfen nur bei Infektionen durch Bakterien, nicht bei Infektionen durch Viren.
Es empfiehlt sich daher, die Mittelohrentzündung zuerst mit Schmerzmitteln, z.B. mit Algifor zu behandeln und zunächst abzuwarten. Die Ohren werden dann spätestens nach 2-3 Tagen nochmal kontrolliert. Viele Ohrinfektionen können so ohne Antibiotikum behandelt werden, was Nebenwirkungen vermeidet und dabei hilft, dass die Antibiotika bei einem Infekt durch Bakterien auch weiter wirksam bleiben.
Husten ist wohl eines der häufigsten Symptome in einer Kinderarztpraxis. Husten ist im Allgemeinen ein natürlicher Abwehrmechanimus des Körpers, um die Viren wieder loszuwerden. Viele Eltern sind durch den Husten stark beunruhigt und fragen nach einem Hustensaft. Hustensäfte enthalten jedoch häufig viele Inhaltsstoffe und bringen meist nicht den nötigen Effekt. In Studien hat man dagegen gesehen, dass bei Kindern ab 1 Jahr Milch mit Honig eine nachgewiesen effektive Therapie bei Husten ist!
In manchen Fällen kann ein schleimlösendes oder hustenstillendes Medikament oder aber eine inhalative Therapie dennoch nötig sein. Dies muss die Kinderärztin dann individuell im Einzelfall entscheiden. Auch muss der Kinderarzt ausschliessen, dass sich hinter dem Husten eine schlimmere Erkrankung, wie z.B. eine Lungenentzündung versteckt.
Hat ein Baby eine Bronchiolitis – das ist eine Entzündung der kleinsten Bronchien – sind Eltern mit Recht sehr besorgt und auch der Kinderarzt nimmt die Erkrankung sehr ernst. Solche Entzündungen werden z.B. durch einen speziellen Virus, den RS Virus (Respiratory Syncytial Virus) ausgelöst. Früher wurde dann häufig eine sofortige Behandlung mit Cortison und Medikamenten zur Erweiterung der Bronchien eingesetzt.
Studien haben aber gezeigt, dass die Anwendung dieser Medikamente weder zu weniger Spitalaufenthalten führt, noch einen nötigen Spitalaufenthalt verkürzen kann. Dafür können Nebenwirkungen auftreten – wie Herzklopfen oder Pilzinfektionen im Mund bei Cortisontherapie. Diese Medikamente sollten also in diesem Fall gar nicht erst gegeben werden.
Anders sieht es aus, wenn Kinder unter einer Entzündung und Verengung der grösseren Bronchien, dass heisst unter einer Bronchitis leiden. Dann ist eine Inhalation mit Salbutamol und auch mit Cortison oft die einzig wirksame Therapie.
Eine Vorstellung beim Kinderarzt sollte bei Atemproblemen in jedem Fall erfolgen. Je kleiner das Kind, umso früher.
Viele Babies spucken immer wieder etwas Muttermilch oder Formula Nahrung nach dem Trinken und stossen insgesamt viel auf. Die Eltern befürchten dann, dass ihr Kind nicht gut zunimmt und vom Aufstossen der Milch belastet ist und fragen dann nach einem Medikament.
Die Smarter Medicine hat als eine der Top 5 Behandlungsstragien aufgenommen, dass Säureblocker nicht routinemässig zur Behandlung eines sogenannten gastroösophagealen Refluxes (GÖR) eingesetzt werden sollen.
Das Aufstossen an sich ist ein physiologischer, also völlig normaler Prozess. Nur wenn dieses ganz stark auftritt und das Baby viel Milch zurückgibt, muss es überhaupt behandelt werden.
Dabei wurde gezeigt, dass sich die Symptome durch Säureblocker oft nicht bessern und diese auch immer Nebenwirkungen mit sich bringen. Der Einsatz von diesen Medikamenten sollte daher nur in Rücksprache mit einer Expertin und erst dann erfolgen, wenn alle anderen unterstützenden Massnahmen wie Nahrung eindicken, Oberkörper hochlagern und gutes Aufstossen zwischen den Mahlzeiten nicht zum Erfolg führen.
Als Fazit lässt sich mitnehmen, dass Kinder häufig viele virale Infekte haben und das Immunsystem sich auf natürlichem Weg mit diesen auseinandersetzen muss. Medikamente sind nicht immer notwendig.
Eine Beurteilung vom Fachmann ist trotzdem wichtig, um sehr kranke Kinder sofort zu erkennen und dann die notwendige Therapie rasch einzuleiten. Gefahren sollten nicht übersehen werden und die Ängste und Sorgen der Eltern und Kinder müssen ernst genommen werden.
Grundsätzlich aber soll ein "Übermedikamentieren" und "Überbehandeln" vermieden und zunächst mit unterstützenden Therapieansätzen begonnen werden. Viele alte Hausmittel von unseren Grosseltern haben sich seit Jahrzehnten bewährt – und dies nicht umsonst!
25. August 2021, Kinderarzthaus in Zürich Stadelhofen